Abendzeitung vom 31.10.2023

34 ABENDZEITUNG DIENSTAG/MITTWOCH, 31.10./1.11.2023 WWW.ABENDZEITUNG.DE KULTUR Von Käfern und Menschen Der Verriss: „Zunächst war Franz Kafka als Vorleser ein recht ungenügender Übermittler. Wenig glücklich war er auch in der Auswahl des Gebotenen. Als wenig günstige Probe eigenen Schaffens las er die Groteske ,In der Strafkolonie’. Der Stoff hätte knapper behandelt werden können.“ Als Franz Kafka im November 1916 in der Galerie Goltz eine seiner raren öffentlichen Lesungen hielt, fiel er in der uninspirierten Besprechung der „Münchner Neuesten Nachrichten“ völlig durch. Nur in der brieflichen Schilderung des Abends für seine Freundin Felice Bauer war er ein noch gnadenloserer Kritiker seiner selbst. Franz Kafka (1883-1924) hadert in seinem Werk mit der körperlichen und seelischen Bedingtheit, den äußeren Zwängen und dem grundsätzlichen Ausgeliefertsein der menschlichen Existenz. Der Versicherungsangestellte und posthume Jahrhundertschriftsteller, der neben Jura auch ein Semester Kunstgeschichte studierte und selbst zeichnete, bringt diese Grundsituation um 1905 in seinem „Selbstporträt als Nachtwandler“, der ungelenk über ein Dach spaziert, karikaturesk auf den Punkt. Sie steht am Anfang der umfangreichen Ausstellung „Kafka: 1924“ in der Villa Stuck. Dort sind, vorab zum 100. Todestag des Dichters im kommenden Jahr, Arbeiten von 35 Künstlerinnen und Künstlern zu sehen, die kafkaeske Themen behandeln. Kuratorin Helena Pereña hat die dichte, suggestive Schau als labyrinthischen Parcours durchs ganze Haus angelegt. Dieser beginnt im Neuen Atelier mit einer Kafka-Hommage von Jeff Wall. Im großformatigen FotoLeuchtkasten von 1994 inszeniert er einen Treppenaufgang, wie er im Text „Der Landarzt“ vorkommt. Dort haust das „Odradek“, ein Zwitter zwischen Lebewesen und Ding, das Wall auch nachbaut. Unvollkommenheit und Versehrtheit des menschlichen Körpers werden dann in Berlinde de Bruyckeres deformiertem Jünglingstorso „Robin V.“ spürbar. Und Harald Szeemann ließ einst den Höllen-Apparat nachbauen, den Kafka in „In der Strafkolonie“ beschreibt: Ein Foltergerät, das den Delinquenten ihre Vergehen Buchstaben für Buchstaben in den Rücken tätowiert. Noch schrecklicher ist nur die „Killing Machine“ von Cardiff & Miller – eine dröhnende TodesKlimax. Kafkas obsessiven Blick ins Innerste kann man mit Mona Hatoums „Deep Throat“ metaphorisch nachvollziehen, dem im Teller am gedeckten Tisch installierten Video einer Darmspiegelung. Und an der Serie schmerzhafter Körperzeichnungen „Mercy Hospital“ der vor kurzem verstorbenen Ida Applebroog. Hubbard & Birchler bauten Gregor Samsas Zimmer nach und filmten die verschiedenen Stadien der Verwandlung – des Raumes. Für die Entsorgung alles Schmutzigen, im trauten Heim Unerwünschten gibt es Robert Gobers überdimensionierten „Drain“ (Ausguss). Von fragilen Identitäten kündet Germaine Richiers hybrides Bronze-Insekt, nur Louise Bourgeois’ Ode an ihre Mutter „Pour Maman“ passt hier nicht ganz. Die Spinne ist bei ihr doch eher positiv fürsorglich besetzt – und nicht autoritär bedrohlich wie etwa Kafkas Vater. Chiharu Shiota hat einen ganzen Raum mit schwarzem Faden eingesponnen wie einen Kokon, der Insasse ist darin geborgen und gefangen zugleich. Das schwarze Loch der Bürokratie, in dem man verloren gehen kann, offenbart unter anderem Margot Pilz’ Dokumentation ihrer eigenen Verhaftung, und in David Claerbouts minimalistisch-subtiler Bewegtbildinstallation „Shadow Piece“ kommen die Leute ins Amt gar nicht erst hinein – nur ihre Schatten. Mit Verhörsituationen und -techniken wiederum setzen sich David Rych und Franz Wanner filmisch auseinander: Rych lässt Befragungen von Geflüchteten durch die Asylbehörden nachspielen und die Betrachtenden daran mittels VRBrille in verschiedenen Rollen teilnehmen. Wanner zeigt die gängige Praktik des BND, von den Asylsuchenden Informationen zu erpressen mit der Aussicht auf ein beschleunigtes Aufenthaltsverfahren. Nur am Ende schwappt die vielschichtige Schau ein wenig über den Rand: Sebastian Jungs überbordende Kafka-Echokammer bietet zwar kuriose und tiefschürfende Entdeckungen, nimmt aber im Verhältnis zu den anderen Beteiligten zu viel Raum ein: „Der Stoff hätte knapper behandelt werden können.“ Roberta De Righi Villa Stuck, bis 11. Februar, Di - So 11 bis 18, jeden ersten Freitag bis 22 Uhr (abends Eintritt frei) „Kafka: 1924“: Ein Jahr vor dem 100. Todestag würdigt die Villa Stuck den Jahrhundertautor mit einer Ausstellung Janett Cardiff & George Bures Miller „The Killing Machine“ ( 2007) aus der, Sammlung Goetz, München. Chiharu Shiotas „During Sleep“, 2023, Installationsansicht. Museum Villa Stuck. Foto: Jann Averwerser / VG Bild-Kunst, Bonn, 2023 and the artist David Claerbout „Shadow Piece“ (2005), Courtesy the artist and galleries Rüdiger Schöttle, and Esther Schipper. Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2023 Wir lassen uns die gute Laune nicht nehmen Volle Kinos, gute Stimmung, junges Publikum, 16 000 verkaufte Kinokarten in sechs Tagen. Die 57. Internationalen Hofer Filmtage haben bewiesen: Der deutsche Nachwuchsfilm lebt. Immer fröhlich zeigte sich Festivalchef Thorsten Schaumann, der bei jeder Gelegenheit betonte, das Leben sei schön und man solle es sich „nicht madig machen lassen“. Und er rief auf: „Nehmt euch in den Arm, wir haben uns alle lieb“. Das kam nicht immer gut an, auch wenn in dieser von Krisen geschüttelten Zeit Optimismus vielleicht nottut. Die von ihm beschworene heile Welt fehlte in den meisten durchaus sehenswerten und hochpolitischen, an der Wirklichkeit orientierten Festivalfilmen. Ob stilisiertes Kunstkino oder intellektueller Kokolores, daran scheiden sich die Geister bei Robert Gwisdeks erstem langen Spielfilm „Der Junge, dem die Welt gehört“. In wunderbaren Schwarz-weiß-Bildern von Kameramann Fabian Gamper erzählt der Schauspieler, Musiker und Romanautor von der Suche nach der ultimativen Poesie in einer verwunschenen Villa auf Sizilien. In fünf Akten wird in verschiedenen Sprachen viel geredet, mit Metaphern gespielt und über das Leben gerätselt: Dafür gab‘s den „Hofer Kritiker Preis“. Ein Drama mit ernstem Hintergrund ist Tuna Kaptans „Rohbau“. Der in München geborene Regisseur zeigt die harte Realität von Schwarzarbeitern, die in einem reichen Land für wenig Geld schuften. Als einer von ihnen bei einem Unfall stirbt, lässt der ehrgeizige Bauleiter die Leiche im Rhein verschwinden. Dumm nur, dass die Tochter des Toten auftaucht und den Vater sucht. Der Film nimmt mit auf eine emotionale wie auch geografische Reise bis nach Albanien, „nie romantisierend und doch berührend“, wie die Jury urteilte. Dafür verlieh sie den mit 10 000 Euro dotierten „Förderpreis Neues Deutsches Kino“. Der überraschte Filmemacher widmete den Preis allen Unsichtbaren auf Baustellen. Er wisse noch nicht, was er mit demGeld macht, wie er sagte. Das gleiche gilt für Pauline Schläger, die mit „Dann lieber sterben“ das Thema psychische Gesundheit entstigmatisieren will und das Porträt einer Freundesgruppe zeichnet, die sich nach dem Suizidversuch eines Freundes die Schuldfrage stellt. Nach der Überreichung des „Friedrich-Baur-Goldpreises“ – Goldbarren im Wert von derzeit 37 500 Euro – rief sie dazu auf, offen über mentale Probleme zu sprechen. Dann musste sie „erst einmal eine rauchen“, um zu überlegen: Was tun mit all dem Geld? Wie in den vergangenen Jahren trumpfte der starke Dokumentarfilm auf. Verdient ging der mit 7500 Euro dotierte Dokumentarfilmpreis Granit an „Frank Meyer“ von Leonhard Hofmann und Riccardo Dejan Jurkovic. Zehn Jahre begleiteten sie den Bodybuilder, der sein einstiges Männerbild mit Muckis hinterfragt und die gewaltvolle Kindheit aufarbeitet. Eine sehr sensible Betrachtung über einen krank machenden Körperkult und damit einhergehende toxische Rollenbilder. Zwei außergewöhnliche Dokumentarfilme kommen hoffentlich ins Kino: „Im Land der Wölfe“ von Ralf Bücheler, der das neue Zusammenleben von Wolf und Mensch unter die Lupe nimmt und die Hysterie über den gefräßigen Feind ad absurdum führt, und „7 oder wie halte ich die Zeit an“: Das Regie-Urgestein Antje Starost undHans Helmut Grotjahntreffen dreizehn Jahre nach der Premiere von „7 oder warum ich auf der Welt bin“ die sieben inzwischen Erwachsenen wieder. Ein Blick auf die Generation zwischen 20 und 30 Jahren zwischen Unsicherheit, Neugier, der Lust auf Liebe und der Angst davor, ein Blick auf die Schwierigkeit, das persönliche Glück zu finden und zu halten. Zur Hofer Tradition gehört natürlich auch die kultige Würstelbude vor dem CentralKino, an der es wie immer hoch herging, und das Fußballspiel des FC Hofer Filmtage (Schauspieler, Regisseure, Produzenten) gegen Fußballer aus der Region, dem FC Filmwelt. Die Filmschaffenden gewannen 2:1. Margret Köhler Viele Besucher trotz schwieriger Themen: Die 57. Hofer Filmtage waren erfolgreich „Dann lieber sterben“ gewann den üppig dotierten Friedrich-Baur-Goldpreis. Fotos: Hofer Filmtage „Der Junge, dem die Welt gehört“ wurde mit dem „Hofer Kritiker Preis“ ausgezeichnet. Gekennzeichneter Download (ID=WsXuUSf05h1xI8_-ceHmHg)

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