Jahresrückblick 2023

ABENDZEITUNG MITTWOCH, 27. DEZEMBER 2023 WWW.ABENDZEITUNG.DE TELEFON089 23 77-3100 E-MAIL POLITIK@ABENDZEITUNG.DE POLITIK Ende Die Atomkraft ist Geschichte SEITE 10 9 DAS WAR 2023 Anfang Charles III. besteigt den Thron SEITE30 Der Rechtsruck len, fahren die Freien Wähler ein Rekord-Ergebnis von 15,8 Prozent ein, das beste ihrer Geschichte. Die AfD punktet ebenfalls und wird mit 14,6 Prozent der Stimmen Oppositionsführerin. Die CSU (37,0) muss Federn lassen – genau wie die Ampelparteien Grüne (14,4) und SPD (8,4). Die Freien Demokraten fliegen mit 3,0 Prozent der Stimmen gar aus dem Landtag. In der Folge erhalten die Freien Wähler ein viertes Ressort – und die CSU ringt ihnen in der Präambel des Koalitionsvertrages ein klares Bekenntnis zur Demokratie ab. Anfang 2024 Jahres könnte sich das Kräfteverhältnis im Landtag allerdings erneut verändern, diesmal in die andere Richtung: Der AfD-Landesvorstand prüft einen Parteiausschluss des Abgeordneten David Halemba, der sich auf die Wahlliste getrickst haben soll (was er bestreitet). Sollte der 22-Jährige Partei und Fraktion verlassen müssen, wären nicht mehr die Rechtspopulisten stärkste Oppositionsfraktion – sondern wieder die Grünen. Natalie Kettinger Helmut, er habe das judenfeindliche und rechtsextreme Pamphlet verfasst. Was dann folgt, ist für viele der eigentliche Tiefpunkt. Denn während Aiwanger erst sehr spät und auf Druck sein Bedauern über die Geschehnisse vor 30 Jahren ausdrückt, inszeniert er das Narrativ von einer Hexenjagd und stilisiert sich selbst zum Opfer: Medien und Grüne wollten ihm so kurz vor der Landtagswahl schaden. Das Entsetzen nicht nur in der jüdischen Gemeinschaft ist groß. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, weigert sich, Aiwangers Entschuldigung anzunehmen. Rücktrittsforderungen werden laut. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) fordert von Aiwanger die schriftliche Beantwortung eines Fragenkatalogs – und hält am Ende an seinem Stellvertreter fest. Bei Teilen der Bevölkerung scheint Aiwangers Darstellung allerdings zu verfangen. Als die Menschen im Freistaat am 8. Oktober den 19. Bayerischen Landtag wähFreistaat politisch ein deutliches Stück nach rechts gerückt, die AfD stärkste Oppositionsfraktion, und die Freien Wähler haben – trotz eines weiteren, gravierenderen Skandals um ihren Chef – ein Ministerium hinzugewonnen. Das zweite Vorkommnis wird als „Flugblatt-Affäre“ in die Annalen eingehen: Im August enthüllt die „SZ“, dass Aiwanger als 17-Jähriger am Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg mit einem üblen antisemitischen Flugblatt im Ranzen erwischt und dafür auch bestraft worden ist. Die Zeitung gibt Aiwanger vor Veröffentlichung des Artikels die Möglichkeit zu einer Reaktion. Der Freie-Wähler-Chef lässt über einen Sprecher mitteilen, er habe das Flugblatt „nicht produziert“. Am Tag nach der Veröffentlichung der Vorwürfe behauptet dann Aiwangers älterer Bruder Es ist Anfang Juni, als Bayerns stellvertretender Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) auf einer von der Kabarettistin Monika Gruber mitinitiierten Kundgebung gegen das Heizungsgesetz der Ampel-Regierung einen Satz sagt, der Demokraten das Blut in den Adern gefrieren lässt. „Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss und denen in Berlin sagen: Ihr habt’s wohl den Arsch offen da oben“, ruft er in Erding vor 13 000 Menschen ins Mikrofon. Als gäbe es die Demokratie in Deutschland nicht mehr – und als sei der bayerische Wirtschaftsminister keiner von „denen da oben“. Doch Aiwangers Populismus schreckt nicht ab: Am Ende dieses Landtagswahl-Jahres ist der Die Menschen im Freistaat wählen den 19. Bayerischen Landtag. Sie stärken AfD und Freie Wähler. Deren Vorsitzender sorgt im Vorfeld mit der „Flugblatt-Affäre“ für Aufregung „Die schweigende große Mehrheit dieses Landes muss sich die Demokratie zurückholen.“ Hubert Aiwanger im Juni auf der Bühne in Erding. Der Freie-WählerChef sorgt mit seinen Aussagen für einen Eklat. Foto: Matthias Balk/dpa Terror-Angriff auf Israel rung in Gaza wächst. Dort herrschten „unvorstellbare Verluste, Zerstörung und Elend“, schrieb Cindy McCain, Leiterin des Welternährungsprogramms, auf X. Jeder leide Hunger. International mehren sich die Stimmen, die einen „dauerhaften Waffenstillstand“ fordern. Auch in Israel selbst wächst die Kritik an dem Kriegseinsatz. Doch Netanjahu, der auch um sein politisches Überleben kämpft, bleibt dabei: „Wir sind entschlossener denn je, bis zum Ende weiterzumachen, bis wir die Hamas vernichtet haben und alle unsere Entführten zurückgebracht haben“, sagt er Mitte Dezember. Bis kurz vor Weihnachten wurden laut dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums fast 20 000 Menschen im Gaza-Streifen getötet. Auch 121 israelische Soldaten ließen dort ihr Leben. nk Gremium eine völkerrechtlich bindende Resolution mit der Forderung nach Feuerpausen im Gaza-Streifen an, um den Menschen die Flucht in weniger umkämpfte Regionen zu ermöglichen. In der Folge lässt die Hamas 69 Geiseln frei – im Austausch für in Israel inhaftierte Palästinenser. Doch die Waffenruhe währt nicht ewig. Bald wird weitergekämpft. Die Not der Bevölkegelte Küstengebiet. Nach dreiwöchigem Raketenbeschuss dringen israelische Panzer in das von der Hamas kontrollierte Areal ein. Die Zahl der Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung steigt schnell, weshalb etwa UN-Generalsekretär António Guterres die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu im Weltsicherheitsrat scharf kritisiert. Mitte November nimmt das Das Grauen, das am 7. Oktober über Israel hereinbricht, ist kaum in Worte zu fassen. Terroristen der palästinensischen Hamas und des Islamischen Dschihad überfallen den Süden des Landes und richten dort Massaker an. Sie morden, vergewaltigen und brandschatzen. Mindestens 260 Menschen schlachten sie allein auf dem Supernova-Festival in der Negev-Wüste regelrecht ab. Insgesamt werden am 7. Oktober und in den folgenden Tagen mehr als 1200 Menschen in Israel getötet – und 239 von den Islamisten in den Gaza-Streifen verschleppt. Israel reagiert mit harten Gegenangriffen auf das abgerieWieder Krieg in Nahost: Die islamistische Hamas tötet 1200 Menschen, Netanjahu schlägt zurück Zwei Frauen gedenken der Opfer auf dem Gelände des Supernova Musik-Festivals im Süden Israels. Foto: Jack Guez / AFP POLITIK kompakt Lützerath ist Geschichte LÜTZERATH Am 11. Januar beginnt die Polizei damit, den von Klimaaktivisten besetzten Ort Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier zu räumen. Fünf Tage später verlassen die letzten zwei Besetzer einen Tunnel unter der Siedlung. Biden besucht die angegriffene Ukraine KIEW Fast ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs besucht Joe Biden am 20. Februar unangekündigt und erstmals als US-Präsident die Ukraine. Mitte Mai reist Selenskyj erstmals seit dem Überfall auf sein Land in die Bundesrepublik. Finnland tritt der Nato bei HELSINKI Finnland wird am 4. April 31. Mitglied der Nato. Das nordische Land mit seiner mehr als 1300 Kilometer langen Grenze zu Russland war lange bündnisfrei gewesen. Der Beitritt ist eine Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine. Erdogan bleibt im Amt ANKARA Der türkische Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan verfehlt bei der Präsidentenwahl knapp die erforderlichen 50 Prozent der Stimmen. 14 Tage später gewinnt er die Stichwahl gegen seinen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Erdogan ist bereits seit August 2014 Präsident des Landes. Anklage gegen Ex-Präsident Trump WASHINGTON Die US-Justiz erhebt am 9. Juni erstmals Anklage gegen einen früheren Präsidenten: Donald Trump. Ihm wird Verschwörung zur Behinderung der Ermittlungen und die gesetzeswidrige Aufbewahrung höchstsensibler Informationen zu nuklearen Fähigkeiten der USA zur Last gelegt. Wagenknecht verlässt die Linke BERLINDie Politikerin Sahra Wagenknecht verlässt am 23. Oktober die Linke. Sie will 2024 mit einer neu gegründeten Partei zur Europawahl antreten. In der Folge löst sich die Linksfraktion im Bundestag auf und beantragt einen Gruppenstatus. MEINUNG Natalie Kettinger Die Politik-Chefin über herausfordernde Zeiten natalie.kettinger@abendzeitung.de Bloß keine Panik ‚‚ Wieder geht ein Krisen-Jahr zu Ende. Krieg in der Ukraine, Krieg zwischen Israel und der Hamas. Inflation, Energiepreis-Schock, teure Lebensmittel, explodierende Mieten. Hitzesommer und Überflutungen. Die Bundesregierung fällt vor allem durch ihre Zerstrittenheit auf, die AfD profitiert von der zunehmenden Politikverdrossenheit der Bürger – und ihrer Furcht vor existenzbedrohenden Veränderungen. Das neue Jahr verspricht, nicht weniger herausfordernd zu werden. Eine Lösung ist weder in der Ukraine noch im Nahost-Konflikt in Sicht. In Thüringen, Sachsen und Brandenburg stehen im September Landtagswahlen an, und überall liegen die Rechtspopulisten aktuell vorne. Sollte es die Ampelregierung in den nächsten Monaten zerbröseln, müsste auf Bundesebene ebenfalls neu gewählt werden – und auch in diesem Fall dürften die großen Gewinner von rechts außen kommen. In Russland lässt sich Wladimir Putin im März erneut zum Präsidenten wählen – und in den Vereinigten Staaten könnte Donald Trump im November ins höchste Staatsamt zurückkehren. Keine schönen Aussichten. Aber erstens könnte manches auch anders kommen, und zweitens sind Angst und Verzweiflung schlechte Ratgeber – sowohl in der Politik als auch im Privaten. In aufregenden Zeiten sind Pragmatismus und Zuversicht gefragt, auch wenn es schwerfällt. Denn Panik macht nie irgendetwas besser, aber sehr oft vieles schlechter.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTYzMjU=