Jahresrückblick 2023

ABENDZEITUNG MITTWOCH, 27. DEZEMBER 2023 WWW.ABENDZEITUNG.DE TELEFON089 23 77-3100 E-MAIL KULTUR@ABENDZEITUNG.DE KULTUR Ausstellung Otto in Bernried SEITE26 25 DAS WAR 2023 Medien Gottschalks letztes „Wetten, dass?“ SEITE27 Die Wahrheit im Nebel Alles ist in Auflösung – aber auf so fulminante Weise, dass man in einer Tour nur staunen kann. Genauso über die Tatsache, dass die Kunst William Turners nicht wie üblich auf der britischen Insel, sondern „on the continent“ und auch noch mitten in München zu sehen ist. In dieser Fülle, wie sie jetzt in den schier endlosen und ausnahmsweise idealen Längen des Kunstbaus zu erleben ist, bekommt man Turner nicht aufs Festland ausgeliehen. Außer man hat wie das Lenbachhaus attraktive Tauschware zu bieten. Ende April gehen wichtige Werke der Expressionisten-Sammlung in eine Schau über den Blauen Reiter nach London. Dieser Deal hat Kuratorin Karin Althaus in die komfortable Lage versetzt, sich aus einem Pool zu bedienen und Turners Entwicklung in ihren vielen Facetten und Innovationen zeigen zu können. An den Außenwänden hängen sich „offizielle“ und zu Lebzeiten nie ausgestellte Gemälde gegenüber, dazwischen erzählen Aquarelle, Zeichnungen und ganze Skizzenbücher von seiner Fabulierwerkstatt und wie teuflisch gut Turner mit dem Stift unterwegs war. Er hat ja auch in einem fort gezeichnet und dabei keine noch so anstrengende Reise gescheut. Quer durch Frankreich, die Schweiz und Italien, hinauf in die Unwirtlichkeit der Alpen, durch Täler und Schluchten und immer wieder nach Venedig, wo sich die bedrückend schweren Nebel seiner Heimat zu einem glitzernden Flirren aufschwingen. Das ist so verwirrend und betörend, dass man gerade im späten Œuvre etwas länger braucht, um zum Beispiel den Dogenpalast zu erkennen. Oder die Walhalla bei Donaustauf. 1845 wollte Turner damit die Münchner beeindrucken. Vergeblich. Dass sie jetzt in Scharen zu seinen Bildern pilgern, ist ein schöner Ausgleich und Turner im Süden Deutschlands überhaupt ein stimmiges Pendant zu Caspar David Friedrich in der Hamburger Kunsthalle. Die beiden Maler sind sich näher, als man meinen möchte. Ganz am Anfang hängt im Kunstbau ein winziger Turner, den man für einen Friedrich halten könnte. Entscheidend ist aber, dass beide die Gewalt der Natur ins Bild holen. Seien es die Schollen, die in Friedrichs Eismeer ein Schiff begraben, sei es Turners Lawine, die erbarmungslos eine Hütte niederwalzt. Der Mensch ist machtlos, das führen diese Künstler so beklemmend wie überzeugend vor Augen. Damit sind sie aktueller denn je. Christa Sigg Turner bis 10. März im Lenbachhaus, Kunstbau Di bis So 10–18 Uhr, Do/Fr bis 20 Uhr Hype mit Tiefgang: Der englische Malerstar William Turner beschert München eine Sensation und dem Lenbachhaus Besucherströme Man hört die Schiffsplanken schon krachen, und doch beginnt über dem dürren Mast friedlich helles Azurblau zu funkeln. 1842 hat Joseph Mallord William Turner alles auf die Spitze getrieben – und für seinen fulminanten „Snow Storm“ bitteren Spott kassiert. Abbildung: © Tate, Acceptedby the nation as part of theTurner Bequest 1856 „Auf Hass mit Liebe antworten“ Wir leben in einer Zeit, von der ich nicht geglaubt habe, sie erleben zu müssen“, sagte der 76-Jährige Schriftsteller Salman Rushdie in seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche, „eine Zeit, in der die Freiheit – insbesondere die Meinungsfreiheit, ohne die es die Welt der Bücher nicht gäbe – auf allen Seiten von reaktionären, autoritären, populistischen, demagogischen, halbgebildeten, narzisstischen und achtlosen Stimmen angegriffen wird“. Rushdie nutzte die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Oktober dazu, die Meinungsfreiheit bedingungslos zu verteidigen. Was könne man dafür tun, fragte der britisch-indische Autor in seiner ebenso kämpferischen wie poetischen Rede rhetorisch: „Schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann“. Die Meinungsfreiheit müsse übrigens auch verteidigt werden, „wenn sie uns beleidigt, da wir die Meinungsfreiheit sonst überhaupt nicht verteidigen würden“. Der mit 25 000 Euro dotiertePreis gilt als eine der bedeutendsten Literaturauszeichnungen des Landes. Gewürdigt werden Personen, die zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen haben. Berühmt wurde Rushdie mit seinem 1981 erschienenen Meisterwerk „Mitternachtskinder“. 1989 rief der damalige iranische Revolutionsführer Ayatollah Chomeini wegen des Romans „Die satanischen Verse“ zur Ermordung des Autors auf. Mehr als zehn Jahre lang lebte er unter ständiger Bewachung versteckt an wechselnden Orten. Eine Messerattacke in den USA 2022 überlebte Rushdie nur knapp, er ist seither auf einem Auge blind. „Hier sind wir nun versammelt, um über Frieden zu sprechen, wo doch gar nicht weit fort ein Krieg tobt“, sagte Rushdie. Der Krieg in Russland sei „der Tyrannei eines einzelnen Mannes und seiner Gier nach Macht und Eroberung geschuldet“. In Israel und dem Gazastreifen sei „noch ein bitterer Konflikt explodiert“. Frieden erscheine ihm im Moment „wie ein dem Rauch der Opiumpfeife entsprungenes Hirngespinst“. In beiden Konflikten könnten sich die Gegner nicht einmal auf die Bedeutung des Wortes Frieden einigen: Für die Ukraine heiße Friede mehr als nur ein Ende der Feindseligkeiten. „Friede, das ist für sie – und das muss es auch sein – die Rückgabe aller besetzten Gebiete und eine Garantie ihrer Souveränität.“ Für Russland bedeute Friede die Kapitulation der Ukraine. „Dasselbe Wort, zwei unvereinbare Bedeutungen.“ Ein Friede für Israel und die Palästinenser scheine sogar in noch weiterer Ferne zu liegen, so Rushdie. Salman bedeute „friedlich“, sagte der Friedenspreisträger. Tatsächlich sei er von Geburt an „friedlich dem Namen nach, friedlich von Natur aus. Der Ärger begann später.“ Mit den „Satanischen Versen“ habe er erfahren müssen, „dass die Freiheit eine gleich starke und widersetzliche Reaktion der Kräfte der Unfreiheit provozieren kann“. Er habe gelernt, „wie gefährlich es sein kann, den Wein der Freiheit zu trinken“, sagte Rushdie. Das aber mache es umso unverzichtbarer, sie zu verteidigen. Derzeit gerate die Freiheit von links wie rechts unter Druck. „Das hat es so bislang noch nicht gegeben.“ Eine Mitschuld gibt Rushdie dem Internet, wo „böswillige Lügen gleich neben der Wahrheit stehen, weshalb es vielen Menschen schwerfällt, das eine vom anderen zu unterscheiden“, auch in den sozialen Medien werde „Tag für Tag die Idee der Freiheit missbraucht“. Dennoch gebe es Hoffnung: „Kunst ist die Antwort auf Philisterei, Zivilisation die Antwort auf Barbarei“, sagte Rushdie. Künstler und Künstlerinnen „können die Barbaren noch von den Toren fernhalten“. Sandra Trauner Knapp ein Jahr nach dem Attentat auf den Autor Salman Rushdie erhält dieser den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels Salman Rushdie bei seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche. KULTUR kompakt Gasteig: Die Generalsanierung kommt MÜNCHEN In seiner letzten Vollversammlung hat der Stadtrat die Generalsanierung des Gasteig beschlossen, die neben der überfälligen Erneuerung der Haustechnik eine Verbindung der Philharmonie mit dem Bibliothekstrakt durch eine „Kulturbühne“ vorsieht. Die neuen Bereiche dienen vorwiegend der Kulturvermittlung. Auch die akustisch umstrittene Philharmonie wird erneuert, der Carl-Orff-Saal zu einem flexibler nutzbaren Raum umgebaut. Filmfest München mit neuer Leitung MÜNCHEN Etwas überraschend gab die langjährige Filmfest-Chefin Diana Iljine im Mai bekannt, dass ihr 12. Filmfest im Juni auch ihr letztes sei. „Ich gehe ganz im Guten, wenn es am schönsten ist. Alles hat seine Zeit“, sagte sie der AZ. Bis zum 1. Juli zeigte sie noch einmal rund 150 Filme aus aller Welt. Ihr bisheriger künstlerische Leiter Christoph Gröner wird 2024 das Filmfest leiten. Julia Weigl, bisher internationale Programmerin, übernimmt die künstlerische Co-Leitung. Gröner und Weigl bilden fortan für das inhaltliche Konzept ein Team. So könnte der neue Gasteig aussehen. Foto: Büro Henn Christoph Gröner leitet nun das Filmfest München. Foto: Felix Hörhager/dpa

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