Abendzeitung vom 31.10.2023

24 ABENDZEITUNG DIENSTAG/MITTWOCH, 31.10./1.11.2023 WWW.ABENDZEITUNG.DE SPORT Der rasende Visionär Auch in den letzten Tagen und Wochen war wieder oft von Nico Rosberg zu hören. Über den Machtkampf bei Red Bull sprach er als Formel-1-Experte, und warum es eine schlechte Idee wäre, Helmut Marko als graue Eminenz des Rennstalls zu feuern. Über die Defizite von Mercedes-Pilot George Russell, der im teaminternen Duell mit Lewis Hamilton selbstbewusster und unbequemer agieren sollte. Oder auch über Sergio Perez, dem er als Teamkollege von Seriensieger Max Verstappen eine konsequent unterdurchschnittliche Performance attestierte. Momentaufnahmen eben, aktuelle Analysen in einer stets aufgeregten Branche mit hohem Schnappatmungspotenzial. Nächste Woche klingt das alles vielleicht schon wieder anders. Viel bedeutender ist da schon, was Nico Rosberg zu anderen Themen zu erzählen hat. Zu Umwelt, zu Nachhaltigkeit, zur Zukunft unseres Planeten. Denn auch er weiß, es gibt wichtigere Dinge als Menschen in schnellen Boliden, die sich im Kreis drehen. Etwa, dass die Menschheit nicht gegen die Wand fährt – und die Erde als Totalschaden hinterlässt. Elf Jahre fuhr Rosberg selbst in der Formel 1, der Sohn von Keke Rosberg, einem der Prototypen der alten Motorsportlergeneration. Kantig, rau und ruppig, mit viel Benzin im Tank und noch mehr Testosteron. Seinen größten Erfolg feierte Papa Keke 1982 mit demWM-Titel imWilliams und damit jenem Rennstall, in dem 24 Jahre später auch sein Sohn Nico in der Formel 1 debütierte. 2010 folgte der Wechsel zu Mercedes, sechs Jahre später der Triumph mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft. Seiner ersten. Seiner einzigen. Denn nur fünf Tage später erklärte er bereits seinen Rücktritt. Völlig überraschend schwenkte er die Zielflagge für seine eigene Karriere. Um zu verstehen, was ihn seitdem umtreibt: Erinnerungen an zwei persönliche Begegnungen mit Nico Rosberg, in denen er lange über sein neues Leben sprach. Das erste Gespräch Ende 2019, vor vier Jahren, in einem Berliner Boutique-Hotel nahe Kudamm. Das Interieur dort in trendigem Zeitgeist-Design, unten in der Lobby ein Morris Minor, grauer Kombi, 1950er Jahre. Mobilität der Vergangenheit. Nico Rosberg kam auf die Minute pünktlich und erklärte gleich zu Beginn, dass Zeit bei ihm schon immer eine wichtige Rolle spielte. Dass es in seinem früheren Leben um Sekundenbruchteile gegangen sei, auf der Jagd nach der Pole Position manchmal um Tausendstel. „Inzwischen“, sagte er gleich zum Anfang, „geht es mir um die nächsten Jahrzehnte. Um die nächsten Generationen. Für einen besseren Planeten.“ Ein bemerkenswerter Wandel, der da herauszuhören war. Vom Autorennfahrer zum Zukunftsvisionär. „Es gab keinen besseren Moment, als damals auf dem Höhepunkt aufzuhören“, erzählte er auf dem Barhocker neben der Fensterfront. „Allerdings hatte ich damals noch null Plan, wie es weitergehen soll.“ Klar war nur: Sich mit 31 als Frührentner an seinen Wohnort Monaco zurückzuziehen, die vielen Millionen an Prämien, die er in seiner Laufbahn verdiente, bis zum Ende seiner Tage irgendwie zu verprassen, das war keine Option. Der Plan kam dann ganz schnell. 2017 stieg Rosberg als Teilhaber in die Formel E ein, die 2014 gegründete Serie für Elektro-Rennautos, und schon nahm die zweite Karriere rasant Fahrt auf. Rosberg investierte in immer mehr Start-Ups, die alle den gleichen Ansatz verfolgen. Zukunftsmobilität, grüne Technologien, Nachhaltigkeit. Ob E-Scooter oder Lufttaxis, ob Ladestationen für Elektroautos oder Fahrdienstvermittler. „Der Erhalt unserer Erde ist das vielleicht wichtigste Thema der Gegenwart“, sagte Rosberg, „jetzt sind wir noch an einem Punkt, an dem wir etwas ändern können.“ An dem man vielleicht noch rechtzeitig eine der letzten Ausfahrten nehmen sollte. Gerade aus geht es in die Sackgasse. Rosberg investierte in Start-Ups, die sich neuesten Technologien für einen nachhaltigen Lebensstil widmeten und initiierte 2019 das dazu passende Greentech Festival. Mit 1000 Ausstellern und 35 000 Besuchern. Das Festival startete mit Erfolg durch. Im Mai 2024 geht es in die sechste Runde. Wie er sich die Mobilität der Zukunft genau vorstelle, auch darüber sprach Nico Rosberg, als er auf die Dachterrasse vor dem Café deutete und sagt über seine Agenda 2030: „Wenn wir von hier nach Potsdam wollen, müssen wir nicht mehr runter auf die Straße. Dann tippen wir auf eine App und kurz darauf landet dort oben unser Lufttaxi.“ Und wo es dann fliegen soll? „In eigenen Korridoren, in Luftstraßen, irgendwo zwischen Flugzeug und Erde.“ Der Himmel über Berlin 4.0. Fliegende Fahrzeuge, für viele immer eher noch eine Utopie wie aus einem Science-Fiction-Film. Das fünfte Element. Blade Runner. Star Wars. Für Nico Rosberg zwingende Realität. Wie immer in seinem Leben alles nur eine Frage der Zeit. 2021 stieg Rosberg mit einem eigenen Rennstall in der Extreme E ein, einer vollelektrischen SUV-Rennserie mit der Mission, auf die Klimakrise aufmerksam zu machen und ein Umdenken zu erzeugen. Exemplarisch dafür der Transport der Fahrzeuge, die nicht wie in der Formel 1 per Flugzeug von einer Rennstrecke zur nächsten gebracht werden – sondern hier mit dem Frachtschiff St. Helena. Das Ergebnis: Eine Reduktion des CO2-Ausstoßes um 75 Prozent. Mit unterschiedlichen Projekten engagieren sich Rosberg und seine Mitstreiter in der Extreme E nunmehr gegen die Ausbeutung der Ressourcen. Von der Wiederherstellung zerstörter RegenwaldRegionen im Amazonas über die Pflanzung einer Million Mangrovenbäume im Senegal bis zum Schutz des Schildkröten-Habitats an der Küste des Roten Meeres – und das sind nur einige von vielen Kampagnen von Grönland bis Chile, von Sardinien bis Uruguay. „Es geht bei der Extreme E eben nicht nur um Motorsport und Technologie, sondern vor allem darum, die Aufmerksamkeit auf den Klimawandel zu lenken und Lösungen aufzuzeigen.“ Sagte Rosberg bei einem zweiten Gespräch 2021, als die Pandemie ein persönliches Treffen in seiner Wahlheimat Monaco verhinderte und man sich bei einem langen Videocall über den Zustand und die Zukunft der Erde unterhielt. Eine Welt, mit der auch seine beiden Kinder zurechtkommen müssen, Alaïa und Naila, die mit ihren acht und sechs Jahren das ganze Leben noch vor sich haben. Zum Abschluss gab Rosberg noch einen Einblick, wie er sich die Mobilität vorstellt, wenn seine Töchter volljährig sind. Von einer einzigen umfassenden Mobilitäts-App, die bei der Verbindungssuche von A nach B die effizienteste Lösung mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln präsentiert. Vom E-Scooter bis zum Share-Auto, von der Bahn bis zum Flugtaxi. „Das alles für einen Flatrate-Preis von, sagen wir, 49,90 Euro. So etwas wie das Netflix der Mobilität. Das fände ich genial.“ Gerade jetzt sei die Zeit, in der die Menschheit noch etwas ändern könnte, meinte Rosberg: „Wir haben es in der eigenen Hand. Aber ich bin total positiv.“ An seinen Erfolg hat Nico Rosberg ja schon immer geglaubt. Auch wenn es ein hartes Rennen wird: Nico Rosberg ist startklar. In der Pole Position für eine bessere Zukunft. Für mehr Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung, Ökologie. Die Ampel steht auf grün. Florian Kinast Nach Ende der Formel-1-Karriere hat Nico Rosberg radikal mit der Benzin-Branche abgeschlossen: Dem Weltmeister geht es als Öko-Influencer und Investor in nachhaltige Start-ups um „einen besseren Planeten“ Benzin im Blut – und vor allem damals noch im Tank: Mit diesem Mercedes-Boliden wurde Nico Rosberg 2016 Formel-1-Weltmeister. Öko-Influencer unter sich: Rosberg und Dr. Eckart von Hirschhausen. Legt beim Umweltschutz am Strand auch selbst Hand an. Die Formel E, die elektrische Zukunft des Rennsports – und Nico Rosberg ist natürlich längst nicht nur hinterm Steuer mit dabei. Alle Fotos: imago Gekennzeichneter Download (ID=WsXuUSf05h1xI8_-ceHmHg)

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