Abendzeitung wird 75 Jahre alt

4 75 JAHRE AZ ABENDZEITUNG FREITAG, 16. JUNI 2023 WWW.AZ-MUENCHEN.DE 1948 Im Gründungsjahr der AZ liegt München in Trümmern. Von den rund 60 000 Gebäuden sind im Krieg nur 1270 unbeschädigt geblieben. Die Theatinerkirche ist intakt, das Kloster davor ein Schutthaufen, ebenso wie das Preysing-Palais gegenüber. Immerhin: Die Feldherrnhalle (hier von hinten zu sehen) ist fast ganz heil geblieben. Foto: imago/ Rolf Poss 1949 Vieles ist einfach verschwunden, ganze Häuserzeilen zum Beispiel. Doch manches kehrt mit der Zeit zurück: große Bauwerke, aber auch kleine Freuden. Wie das Steckerl-Eis, das der Münchner Josef Pankofer erfunden und nach seinen Anfangsbuchstaben Jopa benannt hat. Wie die Verkäuferin es wohl kühlen kann? Foto: imago/ Rolf Poss Bei Udo Jürgens auf demWasser Von Michael Schilling Der weiße Kies, auf dem der Rolls-Royce steht, ist frisch geharkt. Das Corniche-Cabriolet, nachtblauer Lack und das weiße Verdeck akkurat unter der Lederpersenning zurückgefaltet, parkt dekorativ schräg in der Frühsommersonne vor der stattlichen Villa. Ehe wir klingeln können, kommt eine zierliche ältere Dame mit Rüschenschürze ums Eck und bittet uns nicht ins Haus, sondern in den Garten: „Herr Jürgens wird Sie auf dem Wasser empfangen!“ Es ist Mai 2002. Bayer Leverkusen trifft sensationell im Finale der Champions League auf Real Madrid (das Zinedine Zidane mit einem Geniestreich entscheiden wird). Aber wir, die zwei Sportreporter der Abendzeitung, wollenmit dem großen Entertainer Udo Jürgens nicht über Fußball sprechen, sondern über die Formel 1. Dafür sind wir nach Küsnacht am See gefahren. Hier – eine halbe Stunde von seinem Penthouse in Zürich entfernt – hat der Schlagerstar sein Sommerparadies. Inklusive Gartenteich. Knapp über der Wasseroberfläche führt ein Plattenweg zu einer kleinen, sonnenbeschienenen Laube samt Sitzgruppe. Der Ort unseres Interviews. Die Hausdame bringt Kaffee in Goldrand-Tassen wie in der Darboven-Werbung. Udo Jürgens, damals 67, hat seinen Manager an der Seite und zeigt ausladend auf die Glasfront am Souterrain seiner Villa. „Da unten, da ist der Pool“, erzählt er stolz, „und das Kino. Da haben wir immer Spaß mit den Mädchen.“ Sein Manager grinst. Noch läuft das Tonband nicht. Man kann frei reden. Jürgens, der stets im Anzug singt und bei der Zugabe im Bademantel, trägt Sommerhemd und Baumwollhose. Als er merkt, dass seine rechte Hand auf der Lehne der Gartenbank zu zittern beginnt, hält er sie rasch mit der Linken fest. In seinen Mundwinkeln sammeln sich weiße Speichelfäden. Wie die Nebenwirkungen bei meinem Opa, denke ich, der war Parkinson-Patient. Bilder entstehen keine vom Interview. Wir sind ohne Fotografen gekommen und ohne iPhone (das erst fünf Jahre später auf den Markt kommt). Schnell kommt im Interview die Sprache auf Ferrari-Pilot Michael Schumacher: Den hat sein Teamkollege Rubens Barrichello kurz zuvor beim Rennen in Spielberg, Jürgens’ österreichischer Heimat, auf der Zielgeraden überholen lassen. Udo ist wütend über diese unsportliche Ferrari-Stallorder zu Schumis Gunsten. „Ich habe meinen Augen nicht getraut“, wettert er. „Man kann doch keine Fahrer-Weltmeisterschaft austragen, in der einer mit sechs Millionen Dollar im Jahr dafür bezahlt wird, dass er bremst, damit ein anderer Weltmeister wird. Das ist Schiebung, das ist Betrug.“ Mehr noch: Er habe seine Bestellung eines neuen Ferraris „sofort storniert! Ich hoffe, es denken viele so. Denn nur so kann man die treffen.“ Wir bekommen also nicht nur Kaffee serviert, sondern auch eine AZ-Schlagzeile: „Aus Protest: Udo Jürgens bestellt Ferrari ab!“ Ein denkwürdiger Ausflug in die Schweiz. Übrigens, auf noch einen Ferrari hat Udo Jürgens gut verzichten können. Der nachtblaue Rolls-Royce ist schon damals nicht sein einziges Auto gewesen. Michael Schilling (53) arbeitet seit 2001 (wieder) für die Abendzeitung, erst im Sport, dann im Lokalteil. Seit 2014 ist er Chefredakteur. Ein Formel-1-Eklat führt zwei Sportreporter zum Entertainer nach Hause. Der Sänger wird wütend Unser heutiger Chefredakteur führte 2002 ein Interview mit Udo Jürgens über die Formel 1 – er wusste vorher nicht, wie emotional der Musiker den Sport verfolgt. Umso besser, so sprang eine schöne Schlagzeile heraus. Wir gratulieren herzlichst zum 75-jährigen Verlagsjubiläum!

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