Abendzeitung wird 75 Jahre alt

33 75 JAHRE AZ ABENDZEITUNG FREITAG, 16. JUNI 2023 WWW.AZ-MUENCHEN.DE Von Dominik Petzold AZ: Herr Pfarrer Schießler, was verbinden Sie mit der AZ? RAINER MARIA SCHIESSLER: Ich weiß noch wie heute, wie ich zum 58er-Bus gegangen bin und an der Ecke Fürstenrieder/ Agnes-Bernauer-Straße den Ständer mit der Abendzeitung gesehen habe. Die Schlagzeile war: „Der Krieg ist aus“. Das Ende des Vietnamkriegs verbinde ich immer mit der Abendzeitung. Das ist doch etwas Schönes, wenn man eine Zeitung macht: dass man solche Botschaften verbreiten kann. Und für mich ist die Abendzeitung München. Ihr seid für mich in München der Ansprechpartner. Sie sind offenbar Leser? Die Abendzeitung ist mein Startbild, wenn ich ins Internet gehe. Weil ich mich sehr gut informiert fühle bei aktuellen Themen. Ihr seid schon rasende Reporter, seid sehr schnell dran. Wenn ich im Internet die AZ lese, fange ich immer lokal an, dann gehe ich zum Sport und dann kommt das Weltpolitische. Außer, es springt mir etwas entgegen. Haben sich Ihnen bestimmte AZ-Geschichten eingeprägt? Nein, die AZ ist für mich einfach ein täglicher Begleiter geworden. Wie mein Glauben. Glaube heißt ja, dass Gott für mich eine selbstverständliche Gegenwart ist. Ich brauche keine großen Gottesoffenbarungen, der ist für mich einfach da. Für mich ist er wie ein Geländer, an dem ich entlang gehe und an dem ich mich einhalte. Und so halte ich mich auch bei der AZ ein. Wenn es um Ihre Löwen geht, ist nicht immer nur positiv, was Sie bei uns lesen müssen. Aber das liegt ja nicht an Euch. Eure Berichterstattung ist objektiv und sauber. Was die für einen Mist bauen, ich kann‘s auch nicht mehr erklären. Da stehst du mit vorgehaltener Hand, wenn wieder mal der Pass auf der Straße landet. Ich muss mich vor meinen eigenen Gläubigen schon rechtfertigen, was die ganze Beterei nützt. Unter Ihren Gemeindemitgliedern sind sicher auch Fans des FC Bayern. Frotzeln die ihren Pfarrer? Sicher, die fragen, ob ich schon eine Krankenzusatzversicherung habe, aber ich frotzel dann zurück. Wenn die Löwen am Samstag gewinnen, zeige ich nach der Messe einen Löwenschal und sage: „Es gibt Gebete, die brauchen keine Worte.“ Wie sind Sie Sechziger geworden? Ich komme aus Laim, eine ganz einfache Siedlung mit Eisenbahner- und Busler-Kindern – und da waren wir blau. So um 1967 durfte ich mit dem Vater eines Spezls mal ins Stadion gehen, ich habe in der Kurve unter den Tafeln gestanden und nur geschaut, wie sie mit den Steckerln die Torstandstafeln bewegen. Da hab ich zum ersten Mal diese Atmosphäre mitgekriegt. Ich sage immer scherzhaft, ich hätte Prügel gekriegt in der blauen Siedlung, wenn ich gesagt hätte, ich wär‘ ein Roter. Da wirst du reingeboren, und das legt man nicht mehr ab. Sicher treffen Sie auch ab und an 1860-Spieler. Zwei von den Meisterlöwen habe ich schon beerdigt. Zu den verbliebenen Meisterlöwen habe ich mal gesagt: „Wir sind einmal Meister geworden, und auf ewig seid ihr die Meisterlöwen.“ Beim Aufstieg in die Dritte Liga war ich dabei, die Feier war so schön. Da können die Roten noch was von uns lernen. Die Roten hätten ja genügend Gelegenheiten, das Gelernte umzusetzen. Als ich in Heiliggeist war, war meistens am Pfingstsonntag Meisterfeier auf dem Marienplatz. Die liturgische Farbe von Pfingsten ist rot. Ich hab‘ dann immer den Gottesdienst mit den Worten eröffnet: „Dieses rote Messgewand ist nur dem liturgischen Akt gewidmet und nicht diesem kleinen Provinzverein, der zufällig mal wieder Meister geworden ist.“ Aber das hat nichts mit Ablehnung zu tun. Ich finde Vielfalt immer bereichernd. Ich habe Philipp Lahm verheiratet und Mats Hummels’ Sohn getauft. Sie sind Pfarrer, wir machen Journalismus. Bei allen Unterschieden, sehen Sie eine Ähnlichkeit zwischen den Berufen? Natürlich, wir verkaufen doch etwas. Die Evangelisten waren die ersten Journalisten. Sie sind gebürtiger Münchner, wollten aber zunächst in Rosenheim Pfarrer werden. Ja, ich habe vier tolle Jahre dort gehabt, ich habe mich verliebt in die Stadt, in die Menschen und den Beruf. Ich wäre nie der glückliche Priester, der ich jetzt bin, wenn ich die vier Jahre nicht gehabt hätte. Aber die Kirche meinte damals: Der ist sich viel zu sicher dort, der sitzt wie die Made im Speck. Wenn man mir das gesagt hätte, wäre ich dankbar gewesen. Aber das ist die Unart der Kirche, mit den Leuten nicht zu reden. Und das müssen wir gerade jetzt, vor allem seit dem Skandal, lernen, dass jeder es wert ist, dass man mit ihm redet. Aber so bin ich hier gelandet, und das war auch nicht die schlechteste Landung. Wenn Sie Besuch haben, was zeigen Sie in München? Wegen meiner neun Jahre in der Heiliggeist-Kirche sind mir Tal, Viktualienmarkt und Metzgerzeile sehr wichtig. Mir geht es darum, nicht nur spezielle Orte, sondern auch dieses Dorf München in der Weltstadt zu zeigen. Und natürlich stehe ich als alter Monaco-Franze-Fan oben am Friedensengel und schau auf die Prinzregentenstraße runter. Dort, wo er der Elli sagt: „Schau, das ist die Prinzregentenstraße, benannt nach dem Prinzregenten.“ Lässt sich der Lebenswandel des Monaco Franze aus Sicht eines katholischen Pfarrers rechtfertigen? Ist das so schlimm, wenn einer ein bisschen flirtet? Das war ein Jahrhundertwerk, dafür muss man Helmut Dietl für immer danken. Im „Monaco Franze“ stoßen ein kleinbürgerliches und ein großkopfertes München aufeinander. War die Realität so, wie die Serie sie zeigt? Das weiß ich nicht, weil ich nie bei den Großkopferten war. Deshalb konnte ich auch mit „Kir Royal“ nichts anfangen. Ich hab‘ das nur in der Zeit mitgekriegt, in der ich Taxi gefahren bin, ich kenne diese Jet-SetWelt ansonsten nicht. Auf dem Parkett habe ich mich nie bewegt. Jetzt bin ich ja bei so mancher Veranstaltung dabei, aber ich meide rote Teppiche. Aber bald werden Sie auf einen müssen. Ihr Buch „Himmel, Herrgott, Sakrament“ wird von Regisseur Franz Xaver Bogner Münchens bekanntester Pfarrer Rainer Maria Schießler über die AZ, über sein München und das ewige Drama mit seinen Löwen Mit seinen Büchern, hier „Wiesn-Glück“, landete Schießler schon mehrmals in den Bestseller-Listen. Foto: dpa Pfarrer Rainer Maria Schießler bei einem Open-Air-Gottesdienst im Innenhof des Hofbräuhauses. Foto: dpa Prost aufs Jubiläum! Rainer Maria Schießler hat von 2006 bis 2012 und von 2015 bis 2018 auf dem Oktoberfest gekellnert. „Die Wiesn ist wie die Liebe“, sagt er. „Du kannst sie nicht suchen und finden, sondern sie findet dich oder nicht.“ Darüber hat er das Buch „Wiesn-Glück“ geschrieben. Foto: imago/Michael Westermann als sechsteilige Serie für den BR verfilmt. Für mich ist das eine große Ehre. Das Buch muss ja so gut gewesen sein, dass man daraus sogar einen Film machen kann und mag. Aber es ist, wie der Bogner immer sagt: Wir spielen nicht den Schießler nach, sondern einen Typus. Dennoch: Hatten Sie schon vorher manchmal das Gefühl, dass Ihr Leben filmreif ist? Nein, dafür ist es viel zu langweilig. Und gleichzeitig ist es das spannendste. Allein so ein Tagesablauf wie heute: Ich war in der BR-Sendung „Notizbuch“ und bei einem Brunch mit Intellektuellen von der FDP, das ist doch ein tolles Leben, und du bist abends total erfüllt. Der Beruf ist so vielfältig, und man kann so viel ausprobieren. Ich kann nicht verstehen, warum niemand mehr Lust auf diesen Beruf hat. Der Zölibat spielt wohl eine Rolle. Aber das habe ich gewählt, das hat mir keiner aufgezwungen. Ich wollte das ausprobieren in den 70er Jahren. Ich bin erwachsen geworden in einer Zeit der sexuellen Revolution, in der jeder frei sein wollte. Da habe ich Priester und Laien erlebt, die zölibatär gelebt haben, das hat mich beeindruckt, weil ich mich gefragt habe, warum die so anders leben. Ich wollte das auch ausprobieren. Ich wollte Priester werden, und da lebt man zölibatär, da habe ich gar nicht lange drüber nachgedacht. Wobei uns klar war, dass wir die letzte Generation sein werden. Wir haben gemerkt, dass die Kirche sich verändern muss, dass die Zahlen runtergehen. Natürlich kann auch ein Priester verheiratet sein. Das hätte man aber schon vor 60 Jahren beim Konzil machen müssen. Wenn wir das heute machen, heißt es: Ihr macht das, weil euch die Leute ausgehen. AZ-INTERVIEW mit Rainer Maria Schießler Der katholische Pfarrer von St. Maximilian im Glockenbachviertel wurde 1960 in München geboren. Er hat mehrere Beststeller geschrieben, zuletzt „Hoffnung – gerade jetzt“. ‚‚ Die AZ ist ein täglicher Begleiter – wie ‘‘ mein Glaube

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