Abendzeitung vom 31.10.2023

8 ABENDZEITUNG DIENSTAG/MITTWOCH, 31.10./1.11.2023 WWW.ABENDZEITUNG.DE MÜNCHEN PFLANZEN AUF DER FASSADE? WARUM DAS SEHR OFT EINE GUTE IDEE IST – UND WORAUF MAN ACHTEN SOLLTE „Der Efeu ist besser als sein Ruf“ AZ: Herr Heidenreich, der Winter naht, vermutlich ist es kein guter Zeitpunkt, um über Fassadenbegrünung zu sprechen? WOLFGANG HEIDENREICH: Im Gegenteil. Winterzeit ist Planungszeit. Welche Pflanzen sollen es sein, brauche ich eine Kletterhilfe... Bis man sich entscheiden hat, ist sonst die Zeit zum Pflanzen vorbei. Selbstklimmer, also Pflanzen, die keine Rankhilfe brauchen, pflanzt man jetzt. Für andere kann man jetzt eine Kletterhilfe installieren und im Frühjahr pflanzen. Damit sind wir schon mitten im Thema. Sie sind Experte für Fassadenbegrünung im Begrünungsbüro von Green City. Was machen Sie da genau? HEIDENREICH: Der Stadtrat hat 2013 die Einrichtung des Begrünungsbüros als Beratungsbüro bei Green City beschlossen. Es ist ein Projekt, das vom Referat für Klima- und Umweltschutz (RKU) gefördert wird. Wir bieten Informationen an, wie eine Fassadenbegrünung realisiert werden könnte und stellen Kontakte zu Planungsbüros und ausführenden Firmen her. Wir planen aber nicht selbst und führen auch nicht selbst aus. Wir machen viel Aufklärungsarbeit, etwa bei Veranstaltungen, und versuchen einen Bewusstseinswandel herbeizuführen, dass wir die Pflanzen in der Stadt brauchen, als Klimaanpassungsmaßnahme. Das war auch der Hintergrund, warum das Projekt geschaffen wurde: Um München an den Klimawandel anzupassen. Wie genau soll das funktionieren? Auslöser war das Ziel, die Temperatur in der Stadt herunterzubringen. Kletterpflanzen verschatten die Fassaden, so dass sie nicht aufheizen und nachts Wärme abstrahlen. Eine begrünte Fassade ist eine Winwin-win-win-win-Situation. Es gibt nur Vorteile, und zwar viele. Welche sind das? Gebäudeschutz, Kühlung, Feinstaubbindung, Lärmschutz, Biodiversität, auch etwas Wärmedämmung kann eine solche Begrünung leisten. Können Sie das genauer erklären? Nehmen wir den Kühlungseffekt. Gerade bei Neubauten fehlt oft ein Sonnenschutz, der die Räume nicht verdunkelt. Durch große Fenster heizen die Räume auf. Ist das Haus gut gedämmt, bekommt man die Hitze nicht mehr raus, weil es in den Städten auch nachts nicht mehr abkühlt. Wo man draußen vor einer grünen Wand sitzt, ist ein ganz anderes Klima als vor einer unbegrünten. Die Pflanzen verschatten nicht nur, sie verdunsten auch ständig Wasser. Sie kühlen die Luft aktiv. Wenn’s wärmer ist mehr, wenn’s kühler ist weniger, wie eine natürliche Klimaanlage. Das ist ideal, es erhöht die Aufenthatsqualität im und um das Haus. Weil auch noch Feinstaub gebunden wird, hat man auch sauberere Luft. Und wie sorgen Pflanzen für Lärmschutz? Eine begrünte Fassade reduziert die Schallreflektion des Straßenverkehrs erheblich. Fachleute sagen um bis zu fünf Dezibel. Das ist schon ein großer Wert. Durch einen Baum oder Strauch geht der Schall einfach durch. Auch anderer Lärm wird reduziert. Wo kein Straßenlärm ist, hat man dennoch oft Lärmprobleme. Weil es so leise ist, hört man andere Geräusche, etwa von den Nachbarn. Und dann ist da noch die Biodiversität... Ein wichtiger Aspekt. Man muss Lebensräume für Insekten in der Stadt schaffen. Zum Beispiel Efeu: wenn der blüht, ist da richtig „Lärm“ vor so einer Wand im Herbst, so laut summt es da. Das ist die letzte Nahrung für Honig- und Wildbienen und Schmetterlinge. Auch für Vögel bieten solche Pflanzen Lebensraum und auch Futter. Ziemlich umfassende Aspekte hat das alles. Das sind ganz große Themen, gerade, wenn man an die dichte Innenstadt und die Straßenräume denkt. Aber auch an die dichten neuen Wohngebiete, wie sie in München geschaffen werden. Das alles ist nicht unerheblich für das Empfinden der Bewohner. Deshalb braucht man eigentlich unbedingt Fassadenbegrünung. Und es gibt wirklich keine Nachteile einer begrünten Fassade? Nachteile entstehen nur, wenn die falsche Pflanze an der falschen Stelle mit der falschen Kletterhilfe gesetzt wird oder durch mangelnde Pflege. Kletterhilfe, Fassade und Pflanze müssen zusammen passen. Das Thema ist durchaus komplex, man muss sich wirklich gut informieren. Einfach eine Kletterpflanze hinsetzen und denken, die nächsten Jahrzehnte braucht man nichts machen – das funktioniert nicht. Was muss man denn wissen? Ich sehe oft, dass es ganz großes Unwissen über Kletterpflanzen gibt. Ob die Pflanze zum Beispiel eine Kletterhilfe braucht. Und wenn ja, wie ihre Kletterstrategie ist, ob sie schlingt oder rankt. Ranker, etwa eine Clematis, brauchen horizontale Strukturen, um die sich die Pflanzen wickeln können, um dann weiter nach oben zu schieben. An einem senkrechten Seil würde sie runterrutschen. Bei neuen Gebäuden sieht man leider oft, dass Pflanzen einfach an die Wand gesetzt werden, und trotz einer vielleicht teuren Kletterhilfe gar nicht hochkommen können oder eben gar keine brauchen. Früher hat man Efeu oder Wilden Wein oft von den Häusern entfernt, weil sie die Fassaden beschädigten. Es hält sich hartnäckig, dass die Pflanzen die Fassaden schädigen. Eine Pflanze kann keinen Schaden verursachen, aber sie kann vorhandene Schäden vergrößern. In einen feinen Riss im Putz kann beispielsweise der Efeumit seinen haarfeinen Trieben einwachsen und durch das Dickenwachstum den Riss vergrößern. Also lieber Hände weg vom Efeu? Nein, aber Efeu oder Wilden Wein nur an intakte Fassaden pflanzen. Wenn die Pflanzen einmal hochgewachsen sind, ist das sogar ein super Schutz der Fassade. Inwiefern das? Sie wird vor Schmutz und Schadstoffen geschützt, und vor starken Temperaturschwankungen. Etwa ein Gewitterregen nach Hitze – durch die schnelle Abkühlung können Risse entstehen. Kletterpflanzen reduzieren das stark. Das ist dann also mit Gebäudeschutz gemeint. Ja. Die Begrünung erhöht die Lebensdauer der Fassade und spart Sanierungskosten. Unter der Pflanze ist immer der allerbeste Zustand einer Fassade. Und streichen muss man auch nicht. Sie erwähnten vorhin, dass Pflege sehr wichtig ist. Wenn die Pflanzen sehr hoch gewachsen sind, muss man natürlich zurückschneiden. Sie würden sonst hinter die Dachrinne wachsen und sie wegdrücken, oder Dachziegel anheben. Mangelnde Pflege kann also Schäden verursachen. Das hat den Kletterpflanzen einen schlechten Ruf beschert. Selbstklimmer wachsen, wenn man sie lässt, eben in Spalten und Risse ein, oder erobern den Rolladenkasten. Es ist also wichtig, die richtigen Pflanzen auszuwählen? Unbedingt. Selbstklimmer sind nur bei bestimmten Fassaden möglich. Oft findet man sie an alten Häusern, weil die einen dicken Putz auf einer massiven Wand haben. Heute haben wir moderne Fassaden mit Wärmedämmung. Darauf kommt nur ein Dünnputz. Der kann die Lasten einer Kletterpflanze, die ja auch schwer wird, nicht aufnehmen. Er würde mitsamt der Pflanze runterkommen, die Wärmedämmung frei legen und man hat einen richtig heftigen Bauschaden. Auch Fassaden mit vorgehängten Verkleidungen könnten das Gewicht einer Pflanze nicht halten, zudem würden die Pflanzen in die Fugen der Platten wachsen. Selbstklimmer – Efeu, Wilder Wein oder Kletterhortensie – scheiden hier aus. Man braucht zwingend eine Kletterhilfe. Und die müsste man von vornherein mitplanen und installieren. Das passiert aber selten, oder? Ja, leider. Deshalb wird bei solchen Fassaden die Bepflanzung oft weggelassen, weil’s aufwendig erscheint. Aber wenn doch, welche Pflanzen werden gerne verwendet? Neben Efeu und Wildem Wein wird Geißblatt gerne genommen, da gibt es auch eine immergrüne Variante. Und natürlich der Blauregen. Ich höre insgesamt heraus: Sie sind Efeu-Fan? Ich liebe Efeu und Blauregen. Der Efeu ist auf jeden Fall besser als sein Ruf. Sie argumentieren, Fassadengrün hätte auch eine soziale Wirkung. Was ist damit gemeint? Zum einen kann man aus so einer Pflanzung ein nettes Nachbarschaftsprojekt machen. Und: Grün beruhigt, reduziert Aggressionen. Man weiß aus Studien, dass Patienten in Krankenhäusern, die ins Grüne kucken, schneller gesunden und weniger Schmerzmittel brauchen. Auch aus Schulen weiß man, dass Schüler dann ausgeglichener und ruhiger sind, sich besser konzentrieren können. Die Stadt fördert Fassadenbegrünung, oder? Ja, das läuft über das RKU. Bis zu 50 Prozent aller förderfähigen Maßnahmen werden bezuschusst. Wir arbeiten mit der Förderstelle eng zusammen und beraten auch dazu. Gibt es Ausschlusskriterien für eine Förderung? Wenn es um eine Pflanzung für eine Straßenfassade, also auf dem Gehweg geht, wird von der Förderstelle geprüft, ob darunter Sparten liegen. Telekommunikationsleitungen etwa, an die man drankommen muss, liegen oft dicht an der Fassade. Außerdem wird geschaut, ob die Fassade unter Denkmalschutz steht. Das wären K.o.-Kriterien. Abschließend Ihre Einschätzung – wie steht es um die Fassadenbegrünung in München? Es ist noch viel Luft nach oben. Aber: vieles sieht man auch nicht, weil es in Höfen versteckt ist. Da ist man doch immer wieder überrascht und findet mehr Fassadenbegrünung, als man denkt. Haben sie Lieblingsbeispiele? In der Borstei gibt es viele schön bewachsene Fassaden. Oder aber das Haus an der Utzschneiderstraße gegenüber der Schrannenhalle. Da ist ein toller Wilder Wein dran, an dem man sieht, dass die ganz wenig Grundfläche brauchen. Nur etwa eine halbe Münchner Gehwegplatte. Interview: Myriam Siegert Infos: Referat für Klima- und Umweltschutz, Förderprogramm „Grün in der Stadt“, muenchen.de/begruenung-foerdern und bei Green City e.V., begruenungsbuero.de. Der Experte erklärt, warum Fassadenbegrünung nur Vorteile hat – wenn man es richtig macht. Denn: Es gibt einiges zu beachten AZ-INTERVIEW mit Wolfgang Heidenreich Der Landschaftsarchitekt berät seit 2014 im Begrünungsbüro von Green City. Foto: Tobias Hase Dicht mit Wildem Wein bewachsen ist dieseFassade an der Utzschneiderstraße. Die Pflanzen brauchen dabei am Boden kaum Platz. Foto: Daniel von Loeper Dekorativ: Eine bewachseneFassade am Bavariaring. my ‚‚ In München ist noch viel Luft ‘‘ nach oben ‚‚ Nachteile gibt es nur, wenn man ‘‘ Fehler macht Gekennzeichneter Download (ID=WsXuUSf05h1xI8_-ceHmHg)

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