Abendzeitung wird 75 Jahre alt

17 75 JAHRE AZ ABENDZEITUNG FREITAG, 16. JUNI 2023 WWW.AZ-MUENCHEN.DE „Viel mehr als eine Zeitung“ Von Felix Müller AZ: Herr Ude, es gibt ein Foto, das zumindest in der AZ-Welt weltberühmt ist, es hängt auch groß in den neuen Redaktionsräumen. Es zeigt Sie als Zeitungsverkäufer mit roter AZMütze. Was war da los? CHRISTIAN UDE: Ich bin 1998 zum 50-jährigen Jubiläum der Abendzeitung gebeten worden, einen Kabarett-Beitrag zu liefern. Da wollte ich keinen schwarzen oder dunkelblauen Anzug anziehen. Ich dachte, wenn schon, denn schon und habe mir die volle Montur ausgeliehen: Mütze, Umhang und eine Tasche, in die ein ganzer Stapel Zeitungen reinpasst. Und dann? Bin ich als AZ-Verkäufer aufgetreten. Die Zeitungsjungenhat es ja in München eigentlich nach den 50er-Jahren kaum noch gegeben. Aber ich habe den Zeitungsjungen gespielt – undmich natürlich auch ein bisserl über die AZ lustig gemacht. Die Resonanz auf den Auftritt war gewaltig. Auch in meiner Familie. Die hatte doch wohl nichts dagegen, dass Sie als AZ-Verkäufer auftreten? Meine Mutter war schon sehr gealtert und nicht mehr mit dem totalen Durchblick ausgestattet, sie lebte schon im Seniorenheim. Als ich sie in der nächsten Woche besucht habe, hatte sie das Bild von der Titelseite ausgeschnitten, es lag auf der Kommode. Was hat Ihre Mutter gesagt? Sie meinte: Christian, das war ja klar, dass es nicht ewig gut geht im Rathaus, aber dem Papa wär es doch lieber gewesen, wenn du die „Süddeutsche“ verkaufst (lacht lange). Der Oberbürgermeister verkleidet sich zur Gaudi als AZ-Verkäufer – und die Mutter glaubt, er muss jetzt die Abendzeitung verkaufen. Die AZ ist nur wenige Monate jünger als Sie. Was sind Ihre frühen Erinnerungen an die AZ? Die kurioseste Geschichte weiß ich auf jeden Fall noch. Als „SZ“-Jungredakteur hatte ich ein Interview mit dem Kommunarden Fritz Teufel, er war extra nach München gekommen. Er wollte das Interview unbedingt im Altschwabinger Lokal Weinbauer führen. Dort nahmen mehrere Stammgäste sofort eine bedrohliche Haltung ein. Sie nahmen Stuhlbeine in die Hand wie Prügel und kamen auf uns zu. Ich hab noch gefragt, was das soll, ich sei Reporter bei der Arbeit. Doch der Wirt schrie nur „Wer mit dem Deife kommt, ist selber einer!“ Was hatte das mit der AZ zu tun? Ich hatte kein Interview, aber wollte natürlich in den „SZ“-Lokalteil schreiben, wie die angeblich so liberale Schwabinger Gastronomie mit langhaarigen Revoluzzern umgeht. Aber die Redaktion sagte, das kommt gar nicht in Frage. Jemand, der seinen nackten Hintern in die Kamera hält (wie die Kommune 1 auf dem berühmten Nacktfoto, d. Red.), ist halt kein Umgang. Und das sah die AZ anders? Ja, ich habe das der AZ-Kollegin Almut Hielscher erzählt. Die war genauso empört wie ich, dass die „SZ“ mir dazu keinen kritischen Kommentar erlaubt. Und hat ihren Volontär geschickt, der mich dann interviewt hat – und kritisch berichtet, dass die Schwabinger seltsame Typen sind, die weltweit mit ihren Künstlern und NonKonformisten werben, aber wenn wirklich mal einer kommt, drohen sie mit Prügel. Wissen Sie, wer der junge Knabe war, der das für die AZ schrieb? Nein. Es war Götz Aly, später einer der bekanntesten Kulturwissenschaftler Deutschlands. Den habe ich damals als jungen AZReporter kennengelernt. Gab es das in jenen Jahren häufiger, dass Sie die AZ als die liberalere Stimme wahrgenommen haben? Die Demonstrationen jener Jahre waren in der Abendzeitung auf jeden Fall immer gleich ein Aufstand der Massen, während der „Münchner Merkur“ immer nur von einer kleinen radikalen Minderheit schrieb. Ich versuchte, für die „SZ“ die seriösen, realistischen Zahlen zu nennen. Sie sind ein paar Monate älter als die AZ, haben Sie Erinnerungen als Kind? Mein Vater war ja Mitarbeiter der „SZ“ und erzählte täglich von der Arbeit. Die Abendzeitung war schon damals kürzer, bunter, frecher. In der „SZ“ ging es ewig um Dichterlesungen, Hochschulveranstaltungen, Ausstellungseröffnungen. Ich fand oft wichtiger, worüber die Abendzeitung auch mit Bildern berichtet hat. Die „Süddeutsche“ war eine Bleiwüste, die Abendzeitung hat das Stadtleben auch mit dem Auge verfolgen lassen. Haben Sie später, als junger Mann, morgens als erstes Graeters Klatsch gelesen? Nein. Für mich waren eher die Studentenunruhen wichtig, bei denen die AZ eine Parteinahme für die rebellische Jugend hat durchblicken lassen. Gleichzeitig war sie im Gesellschaftsteil oft unheimlich konservativ, die ganzen geldigen Leute tauchten auf der KlatschSeite auf. Michael Graeter war bestimmt kein Freund der Studentenunruhen. Eher der Bussi-Bussi-Gesellschaft, wenn auch mit gewisser ironischer Distanz. Graeter gelesen haben Sie also schon? Relativ selten. Graeter war für die studentische Jugend einfach nicht so wichtig. Aber die AZ hat man geschätzt, weil sie schnell zumWesentlichen kam und ausgesprochen jugendfreundlich war. Sie haben mir mal erzählt, dass Sie viele, viele Jahre mit unserer Filmkritikerin Ponkie jeden Sonntag gefrühstückt haben. Ja, meine wichtigste persönliche Beziehung zur Abendzeitung war Ponkie als Freundin von Helmut Fischer, der gleich bei uns am Kaiserplatz gewohnt hat. Beide haben sich gemocht, verehrt, ich habe den Eindruck: unterschwellig geliebt. Wir hatten eine unheimliche Gruppendynamik mit unserem wöchentlichen Treffen. Die AZ hat bis heute eine starke Beziehung zu Schwabing. Ja, klar! Woran liegt das traditionell? Man hatte als Leser immer den Eindruck, dass die Hälfte der AZRedaktion in Schwabing lebt, so viel ging es um die hiesigen Kneipen. Aber auch der Straßenverkauf war nirgends so erfolgreich wie an der Leopoldstraße. Bis heute pflegt die AZ eine sehr spezielle Mischung: bunt und laut, aber auch geistig und kritisch. Das gibt es bei keiner anderen deutschen Zeitung so, oder? Nein. In der Medienlandschaft gibt es das nicht. Aber den Menschentyp, den gibt es eindeutig, Passt die AZ besonders gut nach München? In Hamburg oder Berlin gibt es ja nichts Vergleichbares. Ja, das habe ich nirgends anders erlebt. Das Feuilleton liest man ja auch wirklich mit Gewinn. Sigi Sommer, der Kolumnist, hat auch ganz ernstzunehmende Literatur geschrieben. Viele Kolumnen waren dann Literatur in kleinem Format. 2014, gerade in Ihren letzten Monaten im Amt, ist die Abendzeitung arg ins Straucheln geraten. Man musste fürchten, dass sie eingestellt wird. Wie erinnern Sie sich an diese Monate? Eine meiner letzten Amtshandlungen überhaupt war, dass ich noch mal den AZ-Verkäufer in der Innenstadt gemacht habe. Ich habe eine Rede bei einer Spontan-Demonstration gehalten, zu der Chefredakteur Arno Makowsky eingeladen hatte. Man hat in diesen Wochen gesehen, dass die Abendzeitung nicht nur ein Unternehmen ist, nicht nur eine Zeitung. Sondern? Viel mehr. Sie ist auch die Plattform einer Münchner Szene. Nicht total vergeistigte Menschen, die sich das „SZ“-Feuilleton antun, sondern geistig interessierte, politisch aufgeschlossene, eher aufsässige bis linksliberale Menschen. Die Abendzeitung ist eine kulturelle Plattform, keine reine Informationsquelle. Sie kommt einem Bedürfnis entgegen. Sie fremdeln ein wenig mit dem Zeitgeist, all den aufgeregten Online-Debatten, politischer Korrektheit. Welche Rolle können Zeitungen, welche Rolle sollte da gerade die Abendzeitung in der Zukunft noch spielen? Die Rolle, die sie spielt. Nicht voller Aggression über diesen und jenen herfallen. Dieser heutige Un-Zeitgeist gehört ja schon immer zur „Bild-Zeitung“ – und einfach überhaupt nicht zur AZ. Und noch etwas schätze ich sehr an der Abendzeitung. Was? Dass ausgerechnet der Verleger interessante und couragierte Groß-Kommentare schreibt. Ein wirklich respektabler Kolumnist, das sind Sonderseiten, die sich zu lesen lohnen. Zum Abschluss so von 75-Jährigem zu 75-Jähriger: Was wünschen Sie der Abendzeitung zum Jubiläum? Gsund bleibn! Was bei einer Zeitung vor allem die wirtschaftliche Gesundheit meint. Meinungsstark bleiben, diese Meinung auch ernsthaft vertreten. Und: unterhaltsam bleiben. Alte Leute geraten ja oft in Gefahr, Krankheiten für interessanter zu halten. Dieser Gefahr sollte man nicht erliegen. Dann lieber Jugenderinnerungen auffrischen – wie schön, dass die Abendzeitung das im Lokalteil auch so häufig macht. Alt-OB Christian Ude ist 75 – so alt wie die AZ. Hier spricht er über sein Verhältnis zur Abendzeitung, Auftritte als Zeitungsjunge – und Frühstück mit Ponkie „Der heutige Un-Zeitgeist, über Leute herzufallen, passt überhaupt nicht zur AZ“: Alt-OB Christian Ude auf dem Rentnerbänkchen am Kaiserplatz, daheim in Schwabing. Fotos (2): Petra Schramek Christian Ude bei seinem Auftritt als Zeitungsverkäufer 1998. Noch als Oberbürgermeister bei der Zeitungslektüre. Fotos (2): Archiv Ude Ude beim Interview in seiner Wohnung mit AZ-Lokalchef Felix Müller. ‚‚ AZ-Leser sind aufgeschlossen, ‘‘ eher aufsässig ‚‚ Die AZ nahm Partei für die ‘‘ rebellische Jugend AZ-INTERVIEW mit Christian Ude Der 75-Jährige war von 1993 bis 2014 Oberbürgermeister. Ude ist gebürtiger Schwabinger und trotz allem immer noch überzeugtes Mitglied seiner SPD.

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