Die nachhaltige Abendzeitung

34 ABENDZEITUNG SAMSTAG/SONNTAG/MONTAG, 29.4./30.4./1.5.2023 WWW.ABENDZEITUNG.DE KULTUR Es ist angerichtet: Mit „Zwiegespräch“, einer Produktion des Wiener Burgtheaters, startete das „Radikal jung“-Festival im Volkstheater. Foto: Susanne Hassler Immer weiterspielen! Nein, Christian Stückl und er werden nun kein Zwiegespräch führen, witzelt Kulturreferent Anton Biebl auf der Bühne des Volkstheaters, womit er sich, gleich mal vorweg, auf den Stücktitel des Abends bezieht. Gute Nachrichten haben Biebl und Intendant Stückl zu Beginn von „Radikal jung“, dem Festival für junge Regie, zu verkünden: Ein Großteil der Tickets sind bereits verkauft, einige Vorstellungen schon ausverkauft. Insofern kann man die diesjährige Ausgabe jetzt schon als einen Erfolg bezeichnen. Dennoch weist Stückl darauf hin, dass es noch Karten gibt, zum Beispiel für die „Odyssee“ am kommenden Montag, den 1. Mai: eine Produktion des Düsseldorfer Schauspielhauses, in der das Homersche Epos für den Dramatiker Pavlo Arie und Regisseur Stas Zhyrkov zur Folie wird, um über den heutigen Krieg in der Ukraine, insbesondere die Situation der ukrainischen Frauen, nachzudenken. Eine gewisse Odyssee ist dann auch die erste von dreizehn eingeladenen Produktionen des Festivals: eine Irrfahrt durch den Kopf von Peter Handke einerseits; andererseits ein, an diesem Abend besonders höllischer, Trip in den Kosmos eines Altenheims. Handkes neues Stück „Zwiegespräch“ hat Rieke Süßkow im letzten Winter am Wiener Akademietheater, Nebenbühne des Burgtheaters, zur Uraufführung gebracht und mit entschlossener Regiehand ins sterile Ambiente einer Seniorenresidenz versetzt. Dort lässt sie Männer und Frauen in Handkes Alter, also um die 80, von Männern und Frauen ihres Alters, also um die 30, versorgen und zwar mit einer choreographischen Nüchternheit, die ihre Inszenierung von Beginn an auch zu einem Kommentar über ein empathieloses Pflegesystem macht. Die Pflegekräfte verlieren kein Wort an die Heimbewohner, sondern ziehen ihre Routine durch: Zimmerpflanzen hierhin gestellt, die Senioren jeweils daneben. Im Hintergrund entfaltet sich ein Paravent wie eine endlose Ziehharmonika, begrenzt den Raum, faltet sich auch mal enger, während das Licht in Dauer-Sepia einen vergifteten Ton setzt. DiesemKnast ist nicht zu entkommen – es sei denn, dass einer der Insassen beim „Reise nach Jerusalem“-Spiel, sobald die Musik aussetzt („La Paloma“ wird unter anderem gesungen) keinen freien Stuhl erwischt, seiner Habseligkeiten entledigt und ins Paravent-Jenseits geführt wird, auf dass imNu eine weitere Urne im Schränkchen der Belegschaft steht. Handke hat sein Stück den Schauspielern Otto Sander und Bruno Ganz gewidmet. Beide sind tot, beide haben in WimWenders „Himmel über Berlin“ mitgespielt. Handke war Co-Autor des Drehbuchs, in dem das Leben und Sterben doch wesentlich träumerischer verhandelt wurde als in seinem neuen Werk, in dem er sich mit seinem Großvater, der Großvätergeneration, seinem eigenen Altern auseinandersetzt. Das grimmige „Zwiegespräch“, das auch ein Dialog Handkes mit sich selbst sein könnte, wird unter Süßkows Regie zu einer Partitur, die das Ensemble im Wechsel der Sprechpartien musikalisch präzise performen soll. Während die Körper auf Distanz bleiben, kann sich so zumindest ein gemeinsames Wortkonzert ergeben – die Sprache als Bindeglied zwischen Generationen. Wobei die Sätze Handkes kaum Harmonie zulassen. Vielmehr wogt sein Furor, seine Wut hin- und her, es gibt da keinen Trost. Erschwerend kommt bei diesem Gastspiel dazu, dass ausgerechnet an diesem Abend einer der älteren Darsteller nach dem ersten Drittel seinen Text einfach nicht mehr parat hat, woraufhin er in ein, recht einseitiges und leider andauerndes, Zwiegespräch mit der Souffleuse gerät. Dabei zeigt sich, dass nicht nur im Seniorenheim, sondern auch im Theater oft eine Maschinerie am Rotieren ist, die wenig Luft zum Atmen – sprich: für Fehler und Improvisation – lässt. Man weiß nicht, mit wem man mehr Mitleid haben soll: mit dem Darsteller, dessen Erinnerungslücken fatal aufklaffen, oder den Mitspielenden, die immer wieder auf ihren Einsatz warten und die Spielenergie immer wieder hochfahren müssen. Um das Spielen, das Nicht-Aufhören-Wollen und Nicht-Können handelt passenderweise auch Handkes Stück. Die Alten wollen nicht Ruhe geben, auch wenn sie von den Jungen stillgelegt werden, und wenn sie am Ende doch verschwinden, ist die Lebendigkeit insgesamt futsch, weil die Gegenwart eben auch an der Nabelschnur der Vergangenheit hängt. Der Applaus ist sehr freundlich am Ende eines Abends, den wohl auch einige im Publikum empathisch durchlitten haben. Toll eigentlich, wie man mit einem verzweifelt um Weiterfluss kämpfenden Ensemble mitfiebern kann. Und schade eigentlich, dass im Leben wie im Theater gilt: The show must go on, was immer auch geschieht. Bis zum erlösenden Ende. Michael Stadler Das weitere Programm findet sich auf: www.muenchner-volkstheater.de/programm/radikaljung/das-festival Das Festival „Radikal jung“ im Volkstheater beginnt mit einem aus dem Ruder laufenden „Zwiegespräch“ Vorbereitung auf den Irrsinn der Welt Elternschaft verändert alles: Man rennt in Unterhosen mit Kleinkind auf dem Arm ins Nachbarhaus, um sich über den Partylärm zu beschweren, das Reserverad im Auto findet man unter Unmengen an Kinderzeichnungen und Kindergarten-Infozetteln nicht mehr und eine heruntergeworfene Sushibox wird mitunter zur Katastrophe. So ergeht es Eva Karl Faltermeiers autofiktionaler Mutterfigur in „Mama Fatale“. Wie in ihren Live-Programmen bewegt sich die Oberpfälzerin auch in ihrem aktuellen Buch nah am Alltag. Kabarettistische Distanz trifft schonungslose Ehrlichkeit und Verletzlichkeit. Karl Faltermeiers „Bekenntnisse einer Erziehungsberechtigten“ - so der Untertitel - bringen zum Lachen und zum Weinen, weil sie so treffend sind. Es geht umdie zunehmende Nähe zum Kind, das mit den Monaten immer weniger schreit und immer mehr zur „Indie-Göttin in Windeln“ wird, und um die zunehmende Distanz zu den kinderlosen Freundinnen: „Ich ertrage es nicht, dass sie so gar nichts müssen - und ich muss alles“. Der KitaAlltag fordert seine Tribute mit rigiden Bring- und Abholzeiten und diversen Kinderkrankheiten von Magen-Darm bis HandMund-Fuß, die auch die ersehnte Familien-Auszeit im Wellness-Hotel ganz anders verlaufen lassen als geplant. In ihrer Anfangszeit als Erziehungsberechtigte ist die ausgebildete Journalistin und Öffentlichkeitsarbeiterin Karl Faltermeier noch keine preisgekrönte Kabarettistin. Den Senkrechtstarter beim Bayerischen Kabarettpreis hat sie 2021 gewonnen. Doch der Erfolg als Kabarettistin macht ihr Leben als Mama nicht einfacher: Ihre beiden Kinder gehen jetzt in die Schule, und sie hat ein ernsthaftes Schlafproblem: „Tagsüber Haushalt, Kinderzeug, Telefonate, Interviews und Zoom-Calls, abends für Ruhe sorgen, aufräumen oder ein Auftritt. Und ab 22 Uhr: endlich Zeit, um kreativ zu sein. Oder Bürosachen.“ Nach so einer Nachtschicht findet sie schwer in den Schlaf, auch CBD, Melatonin und Meditation helfen nicht, und ein tägliches Gute-Nacht-Likörchen hat sie wieder verworfen – das würde doch „im wahrsten Sinne des Wortes das nächste Fass aufmachen“. Sie berichtet auf tragikomische Weise, wie die Ambitionen in Bezug auf die Kinder mit den Jahren der Elternschaft immer weniger werden, aber manche Dinge trotzdem oder gerade deswegen einfach richtig laufen. Bei aller Freude an der satirischen Überspitzung ist es immer wieder schön und wohltuend, wie ernst Karl Faltermeier ihre Kinder nimmt, wie sehr sie versucht, bei aller eigener Unzulänglichkeit die Kinder gut auf den Irrsinn der Welt vorzubereiten. „Man weiß nicht, zu was man fähig ist, bevor man einmal so undifferenziert liebt. Und bevor man durch die Kombi aus Liebe und Erziehungsberechtigung so richtig brutal überfordert ist.“ Dem Unwohlsein und der Überforderung der modernen Mutter begegnet sie humoristisch. Macht Humor die Überforderung erträglicher? Ein Stückweit auf jeden Fall. Er normalisiert und banalisiert sie jedoch auch ein wenig. Aber „Mama Fatale“ muss auch kein radikal gesellschaftsveränderndes Manifest sein, sondern darf ein Bekenntnis sein, dem Ist-Zustand mit mehr Leichtigkeit zu begegnen. Am Ende hält man sich am besten an das, was Eva Karl Faltermeier schon in ihrer Einleitung schreibt: „Wir müssen uns alle weniger stressen, weniger wichtig nehmen und weniger unter Druck setzen. Und genau deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.“ Und eine solche Haltung verändert manchmal schon ganz schön viel. Katrin Kaiser Eva Karl Faltermeier: „Mama Fatale“ (dtv, 192 Seiten, 12 Euro, E-Book für 9,99 Euro) Eva Karl Faltermeier tritt am Mittwoch, 7. Juni, um 19.30 Uhr mit ihrem Programm „Taxi. Uhr läuft.“ im Kleinen Posthof des Deutschen Museums auf, Karten zu 29 (erm. 18) Euro unter ☎34 49 74 Die Kabarettistin Eva Karl Faltermeier hat mit „Mama Fatale“ ein autofiktionales Buch geschrieben Eva Karl Faltermeier. Foto: Linda Kohl KULTUR kompakt Wallraff-Preis geht an Alexej Nawalny KÖLN Der inhaftierte Kremlkritiker Alexej Nawalny erhält den diesjährigen Günter-WallraffPreis für Pressefreiheit und Menschenrechte. „Ich finde: Für seinen selbstlosen Einsatz und Opfergang gebührt Alexej Nawalny der Friedensnobelpreis“, sagte Wallraff am Freitag der Deutschen Presse-Agentur in Köln. Der mit 5000 Euro dotierte Preis wird seit 2015 von der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) verliehen. Zu den früheren Preisträgern gehören Wikileaks-Gründer Julian Assange und der saudische Blogger und Menschenrechtsaktivist Raif Badawi. Kurt-Wolff-Preis an Alexander Verlag LEIPZIG Der Berliner Alexander Verlag ist während der Leipziger Buchmesse mit dem Kurt-Wolff-Preis 2023 ausgezeichnet worden. Verleger Alexander Wewerka nahm die mit 35 000 Euro dotierte Auszeichnung am Freitag entgegen. Der Verlag bringt seit rund 40 Jahren Bücher zu Theater und Film sowie literarische und essayistische Texte heraus. Wewerka verwies auf eines der Probleme nicht nur kleiner Verlage durch illegale Kopien mit einfachen technischen Mitteln. Zudem wurde der mit 15 000 Euro dotierte Förderpreis an den Elif Verlag aus Nettetal vergeben. Verleger ist der Lyriker und Theatermacher Dinçer Güçyeter, der am Donnerstag bereits mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik ausgezeichnet worden. Alexej Nawalny, russischer Oppositionspolitiker, sitzt im Gefängnis. Foto: dpa

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